Whistleblower sind in der heutigen vernetzten und global agierenden Wirtschaft entscheidend, um Missstände in Unternehmen und staatlichen Institutionen aufzudecken. Trotz ihrer wichtigen Rolle gibt es in Europa noch keine einheitlichen Standards für den Schutz von Hinweisgebern - wenngleich die EU durch die Whistleblower-Richtlinie einen ersten wichtigen Schritt vorgenommen hat. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat neue Leitlinien in einem Urteil etabliert, die den Schutz von Whistleblowern in transnationalen Kontexten stärken und damit einen wichtigen Beitrag zum europäischen Rechtsrahmen leisten. In diesem Blogeintrag verschaffen wir uns einen Überblick.
Welche neuen Leitlinien hat der EGMR etabliert?
Der EGMR hat in einem wegweisenden Urteil der Großen Kammer im Fall Halet/Luxemburg vom 14.02.2023 klargestellt, dass Whistleblower, die in gutem Glauben handeln und Informationen von erheblichem öffentlichem Interesse weitergeben, unter den Schutz von Art. 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fallen. Dies gilt selbst dann, wenn diese Informationen vertrauliche Geschäftsgeheimnisse betreffen. Der Gerichtshof betonte, dass das öffentliche Interesse an Transparenz und Aufklärung schwerer wiegt als die Loyalitätspflicht gegenüber dem Arbeitgeber.
Trotz der Vorgaben des EGMR bestehen weiterhin erhebliche Risiken für Whistleblower. In einigen Ländern drohen ihnen strafrechtliche Verfolgung und berufliche Repressalien. Der EGMR warnt vor einem abschreckenden Effekt (chilling effect), der potenzielle Hinweisgeber davon abhält, Missstände zu melden. Der Gerichtshof fordert daher milde und verhältnismäßige Sanktionen, wenn überhaupt, um die Meinungsfreiheit nicht zu untergraben.
Was steht in Art. 10 EMRK?
Der EGMR bezog sich auf Art. 10 EMRK - auf die Zentralnorm zur Meinungsfreiheit Dort heißt es:
(1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.
(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung
Welche konkreten Schritte müssen beim Meldeweg beachtet werden?
Der EGMR legt großen Wert darauf, dass Whistleblower zunächst interne Meldekanäle nutzen sollen, sofern diese effektiv und sicher sind. Wenn interne Kanäle jedoch nicht funktionieren oder Repressalien drohen, dürfen Whistleblower sich direkt an externe Behörden oder die Öffentlichkeit wenden. Der Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK gilt hierbei als vorrangig.
Welche Herausforderungen bestehen bei transnationalen Fällen?
Besonders kompliziert wird es, wenn Verstöße in einem transnationalen Kontext auftreten, wie im Fall der LuxLeaks oder Cum-Ex-Skandale. Hier prallen unterschiedliche nationale Interessen und Rechtsauffassungen aufeinander. Der EGMR fordert daher eine kohärente Anwendung der Schutzmechanismen über nationale Grenzen hinweg, um sicherzustellen, dass Whistleblower nicht zwischen den Rechtsordnungen zerrieben werden.
Der EGMR erkennt an, dass bestimmte Missstände, wie aggressive Steueroptimierung oder grenzüberschreitende Finanzkriminalität, ein internationales oder europäisches öffentliches Interesse haben. Dies verlangt eine kooperative Rechtsdurchsetzung und den Schutz von Whistleblowern, die solche Praktiken aufdecken.
Was können Unternehmen und Staaten machen, um Whistleblowerschutz emrk-konform umzusetzen?
Unternehmen sollten sichere und vertrauliche interne Meldekanäle einrichten, um Whistleblower zu ermutigen, Missstände zuerst intern zu melden. Diese Kanäle müssen effektiv und frei von Repressalien sein. Dies entspricht auch der EU-Vorgabe aus der Whistleblower-Richtlinie von 2019.
Staaten sollten umfassende rechtliche Schutzmechanismen entwickeln, um Whistleblower Schutz vor jeglicher Form von Repressalien zu gewährleisten. Dies umfasst nicht nur den arbeitsrechtlichen Schutz, sondern auch strafrechtliche Immunität für gutgläubige Whistleblower.
Unternehmen und staatliche Institutionen sollten transparente Verfahren zur Meldung und Bearbeitung von Hinweisen einführen. Schulungen und Sensibilisierungsprogramme können dazu beitragen, die Akzeptanz und den Schutz von Whistleblowern zu fördern.
Ausblick
Die Rechtsprechung des EGMR stellt einen wichtigen Etappensieg in Richtung eines besseren Schutzes von Whistleblowern in Europa dar. Sie setzen Mindeststandards, die nationale Gesetzgeber in ihre Rechtsordnungen integrieren müssen. Nur so kann sichergestellt werden, dass Whistleblower effektiv geschützt und ermutigt werden, weiterhin wichtige Missstände aufzudecken.